Am 3. Oktober 2024 wurde in der Fachzeitschrift Cell ein ausführlicher Übersichtsartikel über die Mechanismen von Long COVID und den Weg zu einer möglichen Behandlung veröffentlicht. Sie können diesen Artikel als Fortsetzung des Artikels betrachten, der Mitte Januar 2023 erschien Nature Reviews Mikrobiologie, zu dem C-Support zuvor eine ausführliche Zusammenfassung veröffentlicht hat.
Unten können Sie eine Zusammenfassung dieses neuen Artikels von Michael Peluso und Steven G. Deeks von der University of California San Francisco lesen und wie er mit dem früheren Artikel zusammenhängt.
Definitionen von Long COVID
In dem Artikel skizzieren die Autoren zunächst, welche Definitionen für Long COVID im Jahr 2024 verwendet werden. Sie zeichnet sich durch ein breites Spektrum an Symptomen aus, die noch Wochen bis Monate nach der Infektion bestehen bleiben. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) geht von einem Grenzwert von zwei Monaten für anhaltende Symptome aus, die nicht durch eine andere Diagnose erklärt werden können. Andere Organisationen verwenden beispielsweise 3 Monate als Untergrenze. Gesundheitsorganisationen verwenden unterschiedliche Begriffe wie Post-COVID, Post-COVID-Syndrom und postakute Folgen oder SARS-CoV-2 (PASC), doch, schreiben die Autoren, scheinen international die meisten Patientenorganisationen den bekanntesten Begriff zu bevorzugen: Lang COVID.
Wie oft kommt es vor?
Die Schätzungen, wie häufig Long-COVID auftritt, hängen stark von der verwendeten Definition ab. Betrachtet man nur „ein oder mehrere neue Symptome, die seit der Erkrankung aufgetreten sind“, könnte dies bis zu dreißig Prozent der Menschen ausmachen, die an COVID-19 erkrankt sind. Dazu gehören aber beispielsweise auch Menschen, die ihren Geruchssinn nur für ein paar Monate verloren haben und Menschen, die bereits vor ihrer Corona-Infektion etwas unter ihren Mitgliedern hatten, was erst danach ans Licht kam, ob durch das Virus „entlarvt“ oder nicht .
Das Coronavirus ist sicherlich nicht das einzige Virus, das Langzeitbeschwerden verursachen kann, aber das Virus führt relativ häufig zu schwerwiegenderen Beschwerden. Eine strengere Definition von Long COVID, „mehrere Langzeitbeschwerden einige Monate nach der Corona-Infektion“, entspricht bei 3 bis 6 Prozent der Menschen, die COVID-19 hatten. Das Social-Impact-Team hat in den Niederlanden eine Berechnung durchgeführt und kam zu 100.000 schweren Fällen von Long-COVID in den Niederlanden. Bei Frauen ist der Anteil deutlich höher als bei Männern.
Überschneidungen mit anderen postinfektiösen Erkrankungen
Es gibt viele Überschneidungen zwischen Long-COVID und anderen infektionsbedingten chronischen Erkrankungen wie ME/CFS und Lyme*. In vielen Fällen tritt ME/CFS auch nach einer Virusinfektion auf und 60 Prozent der Long-COVID-Patienten erfüllen auch hierfür die diagnostischen Kriterien. Es besteht die Hoffnung, dass das Wissen über Long COVID auch Patienten mit diesen anderen chronischen postinfektiösen Erkrankungen zugute kommt.
Bei diesen Erkrankungen kommt es meist auch zu einer sogenannten „Post-Exertional Malaise“ (PEM), einem starken Rückfall nach dem Training, der den Aufbau von Belastbarkeit durch Training sehr erschwert, wenn nicht sogar unmöglich macht. Die Autoren schreiben, dass Patientenvertreter aus diesem Grund Interventionen, die auf einen „sukzessiven Aufbau“ körperlicher Aktivitäten abzielen, sehr kritisch gegenüberstehen. Für Patienten mit PEM seien solche Eingriffe nicht zu empfehlen, schreiben sie, Patienten ohne PEM könnten jedoch davon profitieren, so die Autoren.
Ein weiteres überlappendes Merkmal ist das „posturale orthostatische Tachykardie-Syndrom“ (POTS) – starkes Herzklopfen und Schwindel beim Stehen oder Sitzen. POTS ist ein wichtiges Zeichen für eine Fehlregulation des autonomen Nervensystems, die dazu führt, dass solche automatisierten Prozesse nicht mehr richtig funktionieren. Zu den häufigen Symptomen gehören darüber hinaus Gehirnnebel, Müdigkeit, Kurzatmigkeit sowie Muskel- und Gelenkschmerzen.
Eine systemische Erkrankung
Es gebe in der breiten Öffentlichkeit und auch in der medizinischen Welt immer noch eine gewisse Skepsis, ob Long COVID „echt“ sei, schreiben die Autoren. Die Tatsache, dass es noch keinen Bluttest oder andere diagnostische Tests auf Basis sogenannter „Biomarker“ gibt, hilft nicht weiter.
Und doch ist aus allen wissenschaftlichen Untersuchungen klar geworden, dass die Krankheit an verschiedenen Stellen und in verschiedenen Organsystemen des Körpers schwere Schäden verursacht. Der Artikel zeigt in verschiedenen Abbildungen, dass es sich bei Long COVID um eine systemische Erkrankung handelt, die grundlegende Schäden mit Folgen an allen möglichen Stellen im Körper verursacht. Fast alle Organe können betroffen sein: die Genitalien, Blutgefäße, Nieren, Leber, Darm, Lunge, Bauchspeicheldrüse und nicht zuletzt das Gehirn.
Zunehmender Einblick in Mechanismen
Langsam aber sicher wird immer klarer, wie lange COVID nach einer Virusinfektion entsteht und welche Störungen danach häufig auftreten. Nach Ansicht der Autoren lassen sich diese Mechanismen in zwei Kategorien einteilen: die zugrunde liegenden Mechanismen, die die Störung aller Arten von Körperprozessen („Upstream“) erklären, beispielsweise eine Fehlregulation des Immunsystems. Und die Mechanismen, die erklären, wie diese Störungen zu verschiedenen Symptomen („Downstream“) führen, wie etwa Organschäden, Störungen im Nervensystem (Neuropathie), gestörter Signalübertragung zwischen Darm und Gehirn und einer gestörten Funktion der Energiefabriken im Inneren die Körperzellen, die Mitochondrien.

Zu den grundsätzlichen Störmechanismen („upstream“) gehören beispielsweise anhaltende Entzündungsprozesse, Fehlregulationen des Immunsystems (mit und ohne Autoimmunität, bei denen das Immunsystem den eigenen Körper angreift) und in manchen Fällen möglicherweise die Persistenz des Virus bzw Teile davon. Dabei könnte es sich um das bekannte „Spike-Protein“ handeln, mit dem sich das Virus an Zellen anheftet, um in diese einzudringen und sich zu vermehren.
Als die ersten Fälle von Long-COVID auftraten, waren die meisten Wissenschaftler der Ansicht, dass „das Coronavirus“ (SARS-CoV-2) nicht über längere Zeiträume im Körper verbleiben könne. Auch andere (Erkältungs-)Coronaviren tun dies, soweit bekannt, nicht. Allerdings liefern immer mehr Studien starke Hinweise darauf, dass Viruspartikel oder Teile davon vor allem im Darm auch nach Monaten noch vorhanden sein könnten. Dies könnte erklären, warum viele Patienten an Entzündungen leiden, die wiederum Schäden im restlichen Körper verursachen.
Das Virus bzw. die Reaktion des Körpers darauf scheint auch in der Lage zu sein, die Blutgerinnung für längere Zeit zu stören, wodurch sich in den kleinsten Blutgefäßen unseres Körpers, den Kapillaren, sogenannte „Mikrogerinnsel“ oder sehr kleine Blutgerinnsel bilden . Diese Gerinnsel würden dazu führen, dass alle Arten von Organen, einschließlich der Lunge, schlechter funktionieren, weil die Blutversorgung gestört ist. Dies könnte unter anderem erklären, warum viele Long-COVID-Patienten, obwohl ihre Lunge sichtbar geschädigt ist, immer noch sehr kurzatmig bleiben.
Ein weiterer Mechanismus, der von Wissenschaftlern viel Aufmerksamkeit erregt, ist die Reaktivierung anderer Viren im Körper. Diese Viren haben sich nach einer früheren, oft Jahre zurückliegenden Infektion im Körper versteckt und treten aufgrund der COVID-19-Infektion wieder auf. Dies kann einfach daran liegen, dass diese Infektion das Immunsystem stark belastet, oder es könnte ein anderer Mechanismus im Spiel sein, wie zum Beispiel die oben erwähnte Autoimmunität. Insbesondere das Epstein-Barr-Virus wurde bei relativ vielen Long-COVID-Patienten reaktiviert. Dieses Virus ist für Drüsenfieber bekannt und kann auch Multiple Sklerose (MS) verursachen.
Auch Populationen von Mikroorganismen im Darm, die zusammen das sogenannte „Darmmikrobiom“ bilden, können durch das Coronavirus für längere Zeit gestört werden. Diese können also Darmbeschwerden hervorrufen, da das Darmmikrobiom aber auch andere Funktionen im Körper beeinflusst, kann diese Störung auch andere Beschwerden hervorrufen oder verschlimmern. Und schließlich können die Energiefabriken unserer Körperzellen, die Mitochondrien, gestört werden, was erhebliche Auswirkungen auf das Energieniveau der Patienten haben kann. Untersuchungen unter anderem aus den Niederlanden legen nahe, dass dieser Mechanismus eine Rolle bei der Entstehung von Schäden an Muskelzellen und schwerwiegenden Beschwerden nach körperlicher Anstrengung spielt.
Durch diese Mechanismen scheint das Virus Herz, Lunge und Gehirn schädigen zu können, was kognitive Beschwerden (Brain Fog), Herzbeschwerden und Atemwegsbeschwerden erklären kann. Viele Forschungsarbeiten konzentrieren sich auf die Unterscheidung zwischen verschiedenen Long-COVID-Subtypen anhand einer Kombination von Symptomen. Ein Beispiel hierfür ist eine Einteilung in: Herz- und Nierenprobleme, Atem-, Schlaf- und Angstbeschwerden, neurologische Beschwerden, Beschwerden des Bewegungsapparates und eine Kombination aus Verdauungs- und Atemwegsbeschwerden. Keine dieser Klassifizierungen ist noch ideal, aber sie können dabei helfen, gezieltere Behandlungen für (eine Kombination von) Symptomen zu finden.
Da es immer mehr Erkenntnisse über diese Mechanismen gibt, schreitet auch die Suche nach sogenannten „Biomarkern“ voran, also spezifischen Tests, beispielsweise auf Basis von Substanzen im Blut, um Long-COVID oder sogar eine Unterform davon zu diagnostizieren. Dies ist nicht nur wichtig für Patienten, die Klarheit über ihre Beschwerden wünschen, sondern beispielsweise auch für die Messung der Wirkung potenzieller Medikamente in der wissenschaftlichen Forschung.
Behandlungsperspektive
Die Forschung zu wirksamen Behandlungen für Long-COVID steckt noch in den Kinderschuhen. Die vielversprechendsten Medikamente konzentrieren sich auf die Mechanismen, die die Symptome (teilweise) erklären und die Dysregulation hoffentlich umkehren oder zumindest reduzieren können – also „upstream“ gemäß der oben genannten Erklärung. Derzeit laufen verschiedenste Studien zu möglichen Medikamenten. Die Autoren listen diese Wirkstoffe auf, die derzeit untersucht werden.
Den Autoren zufolge könnten möglicherweise sogenannte „Immunmodulatoren“ wie das Rheumamittel Baricitinib und entzündungshemmende Medikamente wie der monoklonale Antikörper Tocilizumab einer Fehlregulation des Immunsystems entgegenwirken.
Bestehende Virushemmer könnten möglicherweise gegen das Überleben und die Persistenz des Virus wirken, etwa Paxlovid, das gegen akutes Covid eingesetzt wird. Obwohl noch keine Studien veröffentlicht wurden, die eine Wirkung auf Long COVID belegen. Antikoagulanzien wie Aspirin und Copidogrel können gegen Gerinnungsstörungen wirksam sein. Gegen chronische Entzündungen könnten Kortikosteroide und modernere entzündungshemmende Medikamente helfen. Derzeit laufen wissenschaftliche Studien mit Long-COVID-Patienten mit verschiedenen Mitteln.
„Downstream“ bieten die neuen Erkenntnisse Möglichkeiten, dem letztendlichen Schaden entgegenzuwirken, auch wenn die zugrunde liegende Störung bestehen bleibt. Beispielsweise können Blutdruckmedikamente wie Betablocker, Kompressionsstrümpfe und Kochsalztabletten die Symptome einer orthostatischen Intoleranz wie POTS lindern. Darüber hinaus könnten Probiotika und Präbiotika die Darmgesundheit verbessern und Wirkstoffe wie N-Acetylcystein könnten zur Wiederherstellung der Mitochondrien beitragen.
Dies ist teilweise eine Frage der Symptombehandlung, aber bis die zugrunde liegenden Mechanismen angegangen werden können, könnte dies für viele Patienten Erleichterung bringen. Darüber hinaus muss dieses Medikament nicht erst ein sehr kompliziertes Zulassungsverfahren durchlaufen, da solche Medikamente bereits verfügbar und einsetzbar sind. Manchmal kann dies auf der Grundlage einer spezifischen Beschwerde erfolgen, für die das Medikament bereits verschrieben wurde, manchmal auch Off-Label.
Neue Erkenntnisse
Welche neuen Erkenntnisse und Perspektiven sind seit der letzten großen Übersichtsstudie Anfang 2023 hinzugekommen? Die damaligen Hypothesen, die die Symptome erklären, gelten noch immer, obwohl sie heute weniger als Hypothese, sondern eher als Teilerklärung angesehen werden – dafür gibt es mittlerweile mehr Belege. Immer mehr Wissenschaftler sind sich einig, dass bei den meisten Patienten nicht einer, sondern eine Kombination dieser verschiedenen Mechanismen die Beschwerden verursacht. Neu ist auch, dass die Forscher nun zwischen den zugrunde liegenden Störungen auf grundlegender Ebene im Körper und der Art und Weise unterscheiden, wie sie die Schäden verursachen, die die Krankheitssymptome erklären. Der größte Unterschied zu Anfang 2023 besteht in der Anzahl der begonnenen größeren und kleineren klinischen Studien. Diese können Ärzten und Patienten dabei helfen, festzustellen, welche Medikamente einem erheblichen Teil der Patienten zugute kommen und welche nicht.
Schritt für Schritt entsteht mehr Einsicht darüber, wie der Körper durch das Coronavirus über längere Zeit gestört werden kann, was nicht nur zu einer breiteren Erkenntnis der Schwere der Erkrankung führt, sondern auch eine gezielte Behandlung der Symptome und vielleicht auch die Umkehrung mit sich bringt der Störung selbst näher. Wissenschaftler auf der ganzen Welt arbeiten hart daran, solche Behandlungen zu entwickeln und zu testen, damit die Krankheit, die für viele Menschen zu Behinderungen führt, hoffentlich bekämpft werden kann.
*Der Originalartikel beschreibt ME/CFS und Lyme und erwähnt QVS und andere PAIS nicht ausdrücklich. Allerdings wird „unter anderem“ verwendet, was sich auf mehrere PAIS bezieht, die auch anhaltende Beschwerden nach Q-Fieber umfassen, wie aus der für die Erstellung dieses Artikels verwendeten Literatur hervorgeht.